Warum sich Potenzialentfalter* mit Wachstumsschmerzen auskennen sollten…

* Führungskräfte, Trainer, Personalentwickler

Sobald ich in Gesprächen das Wort „Potenzialentfaltung“ ausspreche, strahlen mich viele Augen an. Bei den einen geht sofort das Kopfkino los. Sie schalten in den Entdeckermodus und identifizieren umgehend die schlummernden Potenziale ihres Teams. Sie stellen sich vor, „Was wäre, wenn wir das alles nutzen könnten?“. Die anderen werden neugierig. Sie spekulieren, was in ihnen selbst noch steckt und welche neuen Möglichkeiten entstehen, sobald sie dieses Etwas freisetzen.
Ich liebe diesen Energie-Mix aus Entdeckergeist, Sehnsucht und Begeisterung, denn den brauchen wir, um Potenziale zu entfalten – die von anderen und unsere eigenen.

Das große UND
Nutzen, was in einem steckt, neue Möglichkeiten, konstruktive Energie, damit assoziieren wir vorrangig erstrebenswerte Bilder. Wenn wir als Potenzialentfalter allerdings nur mit dem Verständnis Positives zu bewirken losziehen, stoßen wir früher oder später an unsere Grenzen und an die unserer vermeintlichen Potenzialträger. Denn wie in jedem Wachstumsprozess gibt es auch Widerstände, innere Blockaden und unerwünschte Auswirkungen. Spätestens dann sind unsere Empathie, Reflexionsfähigkeit und Durchhaltevermögen gefragt, um herauszufinden woran es hakt und welche förderlichen Maßnahmen wir gestalten können, um den Entfaltungsprozess zu unterstützen.

Wachstumsschmerzen – ein beidseitiges Phänomen
Haken kann es an vielem: innere Zweifel, Druck Erwartungen zu erfüllen, Vermeiden von Unsicherheit, Angst vor der eigenen Größe und Macht, offener und verdeckter Neid/Missgunst und so weiter. All das sind Konflikte, die sowohl in einem selbst als auch im Kontakt mit anderen entstehen (könnten) und emotionale Schmerzen auslösen – diese nenne ich „Wachstumsschmerzen“. Sie können stärker oder schwächer sein, sind manchmal vorhersehbar, kommen aber oft überraschend, mal nimmt man sie in Kauf, mal versucht man sie zu vermeiden. In manchen Fällen sind sie so stark, dass kein Zugang zum Potenzial möglich ist. Auftreten tun sie grundsätzlich bei beiden, den Potenzialträgern als auch bei den Potenzialentfaltern. Sie wirken wechselseitig, was es besonders knifflig macht.

3 Gründe, warum sich Potenzialentfalter mit Wachstumsschmerzen auskennen sollten…

Wachstumsschmerzen erschweren oder verhindern den Entfaltungsprozess
Wer Schmerzen hat, ist abgelenkt und kann seine Aufmerksamkeit nicht auf die eigentlichen Aufgaben richten. Die Aufmerksamkeit entscheidet allerdings ob jemand seine (angelegten) Fähigkeiten entfaltet, dazu im Hirn neuronale Netzwerke anlegt oder ob man so bleibt wie man ist. Wer sich (unbewusst) mit inneren Zweifeln, einem missgünstigen Umfeld, Erwartungsdruck oä. beschäftigt, hat wenig bzw. keinen Zugriff auf sein Potenzial und schränkt das Wachstum ein.
Typische Beispiele: Leistung kann, obwohl körperlich möglich, nicht gesteigert werden – vorhandene Leistung kann nicht abgerufen werden – Wissenslücken bei Präsentationen oder Prüfungen.

Es gibt kein Patentrezept. Auslöser und Behandlung sind ganz individuell.
Während beim einen Schmerzen durch hohen Erwartungsdruck ausgelöst werden, kann es beim anderen die Angst vor der eigenen Größe sein („Was passiert, wenn sich XY neben mir dann unwichtig/benachteiligt/minderwertig fühlt?“). Oft kommt man sich und anderen aber gar nicht erst auf die Schliche und stellt eine Diagnose, die lediglich auf Annahmen ruht. Es kann passieren, dass man versucht mit Hustensaft einen gebrochenen Arm zu heilen und sich wundert, warum das so lange dauert. Dann braucht es eine externe Unterstützung mit entsprechenden psychologischen Kompetenzen und Erfahrungen.

Wachstumsschmerzen sind meistens ansteckend
Während des Potenzialentfaltungsprozesses wachsen beide – Träger und Entfalter.
Letztere sind meistens mit einer Ermöglicher-Haltung unterwegs und es ist ihnen nicht bewusst, dass gerade sie der Auslöser für Schmerzen sein können – meist unbewusst und unbeabsichtigt. Ein Beispiel: Ich habe als Trainer/Führungskraft den Glaubenssatz „Erfolg muss hart erarbeitet werden.“ Wie wirkt sich das auf einen Sportler/Mitarbeiter aus, der oft im Flow ist? Der Trainer/FK durchlebt 2x Wachstumsschmerzen: früher als er hart für den Erfolg gearbeitet hat und jetzt, wenn er erlebt wie leicht es jemand anders fällt – aufgrund besserer Möglichkeiten oder persönlicher Voraussetzungen. „Ansteckend“ ist er dann, wenn er seinem Sportler/Mitarbeiter immer wieder Steine in den Weg legt z.B. in Form von unangemessen kritischem, forderndem, perfektionistischem Verhalten, bis dieser dann beginnt, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln und sich nicht weiterentwickelt.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass Potenzialentfalter ihre blinden Flecken, Glaubenssätze und Denkfehler aufdecken, ihre „Ansteckungsgefahr“ reflektieren.

 

Natürlich gibt es mehr als 3 Gründe. Bestimmt fallen euch noch einige ein. Wenn wir sorgsam mit Wachstumsschmerzen umgehen und uns ermutigen und inspirieren, einen Weg zu finden, können wir gemeinsam über uns hinauswachsen.

„In conversation: do you listen or wait to talk?“

„I have to admit, that I wait to talk, but I´m trying hard to listen.“ Das antwortet John Travolta auf die Frage von Uma Thurman in Pulp Fiction.

Wie schaut es bei euch tendenziell aus? Hört ihr in Gesprächen wirklich zu, um den anderen zu verstehen? Oder wartet ihr, bis ihr (endlich) mit Reden dran seid?

Gespräche, in denen das Gegenüber nicht wirklich zuhört, sondern nur darauf wartet, seine Meinung zu platzieren, seine Geschichte zu erzählen oder einen Ratschlag zu geben, kennen wir alle. Meistens vergessen wir sie schnell, weil sie inhaltlich unerheblich sind und zwischenmenschlich eher frustrierend oder nervig. Und wenn wir genau aufpassen, erwischen wir uns selbst dabei, wie auch wir, manchmal oder oft, innerlich sofort eine Meinung oder Antwort formulieren, bevor wir genau verstanden haben, was unser Gesprächspartner sagt.

Warum halten wir uns davon ab, das herauszufinden? Ich-Bezogenheit? Fehlendes Interesse? Zu viel Ablenkung und Lärm im Kopf? Zu kompliziert? Keine Zeit dafür? Sehnsucht nach Klarheit und einfachen Antworten? Gründe gibt es viele…wer Interesse hat das für sich herauszufinden, kann zukünftig in Gesprächen mal darauf achten.
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Die Zuhören-um-zu-verstehen-Haltung
Wer diese Haltung kultiviert, verbessert nicht nur die Gesprächsqualität, sondern entwickelt noch weitere persönliche Seiten, die im (Arbeits-)Leben sehr hilfreich sind. Meine Top 3: Neugier, Präsenz, Resonanz.

Neugier
Die Gelegenheit, hinterher schlauer zu sein als vorher – im Gegensatz zum Verlangen vorher schlauer zu sein als hinterher.

Wer neugierig ist…
…gibt sich nicht mit der ersten schnellen Antwort zufrieden, sondern schaut nach dem, was nicht sofort sichtbar ist und schafft so Alternativen.
…dem fällt es leichter sich an ständig verändernde Situationen anzupassen, wie sie uns im Leben ständig begegnen.
…möchte Dinge verstehen und entwickelt dadurch Motivation und Durchhaltevermögen.
…steckt Menschen seltener in Schubladen und entdeckt so häufiger das Potenzial im Anderen.

Präsenz
Ungeteilte Aufmerksamkeit und Offenheit, hier und jetzt.

Wer präsent ist…
…hat eine einladende Wirkung – auch ohne Worte.
…ist zugänglicher für andere und knüpft leichter bedeutungsvolle Kontakte und Beziehungen.
…kann besser fokussieren und ist nicht so leicht ablenkbar.
…wirkt klar und bestimmt.

Resonanz
Die menschliche Sehnsucht berührt und bewegt zu werden und selbst andere zu erreichen und zu bewegen.

Wer resonanzfähig ist…
…lässt sich von Begegnungen, Orten, Sport, Musik, Natur inspirieren und schafft so die Grundlage für kreative Prozesse.
…erlebt sich als selbstwirksam, was dazu motiviert sich einzubringen und sein Leben zu gestalten.
…entdeckt Berührungspunkte zu anderen Menschen, Kollegen, Kunden und wird so anschlussfähig.

Bestimmt gibt es noch viele ganz andere Wirkungen, die durch den Zuhören-um-zu-verstehen-Modus entstehen. Lassen wir uns einfach überraschen.

Was Potenzial-ent-faltung mit Mut zu tun hat…

Was wir waren.
Als Kinder waren wir voller Kreativität, Neugier und Entdeckergeist. Erinnert ihr euch noch? Wir haben Fragen gestellt, ohne darüber nachzudenken, ob sie dumm oder schlau sind. Wir haben gespielt, ohne den Zweck erklären zu können. Wir haben alles Mögliche ausprobiert und uns überraschen lassen, was passiert.
Je älter wir wurden, umso mehr einschränkende Reaktionen haben wir auf unser neugieriges und unbedarftes Verhalten erfahren: „Frag nicht so dumm!“, „Lass es sein, das können andere besser.“, „Wozu soll das gut sein? Das macht gar keinen Sinn.“, „Gut ist noch nicht gut genug.“ und noch vieles mehr.

Was wir glauben, was wir sind.
Mit der Zeit haben wir uns an diesen teilweise sogar gut gemeinten Aussagen orientiert und unser Verhalten und unsere Denkweise über uns, unser Können, und wie die Welt funktioniert, adaptiert. Wir haben weniger ausprobiert, weniger Fragen gestellt und dadurch Fähigkeiten und Talente, die in uns angelegt sind (unser Potenzial) nicht weiterentwickelt. Wir haben nur das vorangetrieben, das in unserem Umfeld belohnt und als richtig bewertet wurde. Aus dem tiefen Bedürfnis Dazuzugehören, haben wir uns angepasst und gleichzeitig einen Teil in uns verkümmern lassen. Heute lieben wir Erklärungen, warum wir so sind wie wir sind: Gene, Hormone, Erziehung, Umfeld…alles richtig – und gleichzeitig ist das nur eine Momentaufnahme. Wir sind als Menschen keine starren, statischen Persönlichkeiten, sondern dynamische. Wir befinden uns unser ganzes Leben in einem Entwicklungsprozess, den wir selbst gestalten können. Echt? Ja, echt! Und dieser verkümmerte Teil in uns, unser ungenutztes Potenzial, ist immer noch da und wir können es jederzeit reaktivieren und ent-falten, wenn…

Jetzt kommt der Mut ins Spiel.
…wenn wir den Mut aufbringen, alte Denkmuster zu verlassen und uns selbst die Chance geben, neue Seiten an uns zu entdecken. Die fühlen sich anfangs noch unsicher und wacklig an, so wie Laufen lernen. Deshalb ist, neben dem eigenen Mut, sich auf Neuland zu begeben, ein vertrauensvolles und ermutigendes Umfeld für die Potenzial-ent-faltung entscheidend. Vertrauen und Ermutigung von außen sind deshalb so wichtig, damit wir uns Gelegenheiten und Zeit geben, Erfahrungen zu machen, die besser sind als die ungünstigen, die wir früher gemacht haben.

Einladung zu einem Experiment.
Stell dir vor, das Potenzial, das in dir angelegt ist, ist ein weißes Blatt Papier.
Nimm ein leeres Blatt, am besten DIN A4.

Jetzt falte für jede einschränkende/blockierende Annahme, die du über dich hast, ein richtig festes Eselsohr in das Blatt: große, kleine, schmale, breite, so wie es für dich passt.
Notiere die jeweilige Annahme auf dem Eselsohr (Beispiele: Ich bin nicht kreativ./ Wer Fehler macht ist dumm./ Gut ist noch nicht gut genug./Nur wenn Arbeit anstrengend ist, ist sie was wert.).

Wie groß ist die sichtbare Fläche des Blattes jetzt noch? Das, was du siehst, ist dein Potenzial, das du aktuell nutzt. Die Eselsohren symbolisieren das Potenzial, das du (noch) nicht nutzt.
Schau dir deine Notizen nochmal genau an. Was passt vielleicht sogar zu Kommentaren von Freunden, Kollegen, Chefs, Trainern: „Du hättest so ein großes Potenzial für…, wenn du mehr/öfter … !“ Durch welchen Satz fühlst du dich besonders eingeschränkt? Suche dir EINEN aus, zum Beispiel “Wer Fehler macht ist dumm.”.

Beschäftige dich damit intensiv. Welche Erfahrungen verpasse ich durch diese Denkweise? Wann sind Fehler hilfreich und dringend erwünscht? Wie wirke ich auf andere mit meiner Haltung? Such dir ein Motivations-Zitat aus. Lege kleine und ganz konkrete Schritte fest, wie du einen konstruktiven Umgang mit Fehlern ausprobieren wirst. Nimm dir etwas vor, was du tust, wenn du ans Aufgeben denkst. Suche dir eine/n Ermutiger/in für dein Vorhaben. Wer streicht geduldig mit dir das Eselsohr glatt, bis es nicht mehr umknickt? Schreibe auf, was dir wichtig erscheint: was dich überrascht, an dir selbst und an deiner Wirkung auf andere, was deine Learnings sind…

Ich wünsche euch viele bestärkende Erfahrungen und dass ihr euer Potenzial-Blatt ent-faltet. Denkt daran: Jeder von uns kann andere einladen, ermutigen und oft sogar inspirieren mehr von dem zu nutzen, was in uns steckt.

Wer sich für Literatur zu Potenzialentfaltung interessiert:
„Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher.“ von Gerald Hüther.